Kreativwirtschaft und Industrie – vor welchen Herausforderungen stehen beide aktuell?
Trotz Innovationsfähigkeit, Improvisationsstärke und Engagement sind Teile der Kreativwirtschaft in der Region Stuttgart von den Auswirkungen der Corona-Pandemie stark betroffen, insbesondere die Veranstaltungsbranche und die Kulturszene. 2019 haben deutschlandweit rund 423 Millionen Menschen an Tagungen, Kongressen und Events in den Veranstaltungsstätten teilgenommen. 2,89 Millionen Veranstaltungen fanden statt. Nach Schätzungen des Europäischen Verbands für Veranstaltungszentren e.V. können im Jahr 2020 neun von zehn Veranstaltungen nicht stattfinden.

Margit Wolf, Projektleiterin bei der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart im Bereich Kreativwirtschaft. Quelle: WRS
Die erneute Schließung von Spielstätten, Clubs, Kinos, Theatern, die Stornierungen im Veranstaltungsbereich, sowie die andauernde Kürzung von Budgets bei den Auftraggebern der Kreativunternehmen, führen zu großen Umsatzausfällen in der Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW). Die Lage ist für viele Unternehmen noch immer existenzbedrohend, da die Umsätze bei zahlreichen Unternehmen um mehr als 50 Prozent eingebrochen sind.
Durch die massiven Umsatzverluste ist bereits jetzt absehbar, dass mittel- bis langfristig Gelder für Investitionen fehlen werden, wenn Einnahmen aus Aufträgen und Rechteverwertung ausbleiben. Durch die Folgewirkungen für die kulturelle Produktion insgesamt ergeben sich auch negative Effekte für den Aufbau von NachwuchskünstlerInnen.
Auch im Mittelstand bahnt sich ein Investitionsstau an. Die Auftragslage wird sich analog zur gesamtwirtschaftlichen Rezession negativ entwickeln und betrifft durch die enge wirtschaftliche Verflechtung der Teilmärkte untereinander die gesamte Kultur- und Kreativwirtschaft. Dieser Trend wird sich durch die positiven Entwicklungen durch Investitionen im Bereich Digitalisierung nicht ausgleichen lassen.
Welche Teilbereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft sind von der Corona-Krise besonders stark betroffen?
Insbesondere die Lage der Veranstaltungs- und Musikwirtschaft ist sehr ernst, individuell aber unterschiedlich. Die zahlreichen Online-Formate, etwa mit Livestreams, brachten kurzfristig einen Grundumsatz und Sichtbarkeit – was wichtig und richtig bleibt. In den wenigsten Fällen konnte oder kann darüber eine ausreichende Kostendeckung herbeigeführt werden. Anbieter die im Bereich von Online- und Hybrid-Veranstaltungen bereits vor Corona tätig waren, verzeichnen jedoch teilweise auch ein Umsatzwachstum. An manchen Stellen wird derzeit allerdings auch von einer sich einstellenden „Online-Müdigkeit“ gesprochen. Der ein oder andere Marktteilnehmer wird jedoch diese, durch Corona extrem beschleunigte, Marktveränderung langfristig nicht überleben oder nur in veränderter Form.
Die Situation in der Werbewirtschaft ist seit Ausbruch der Pandemie unverändert. Zahlreiche Auftraggeber haben in laufende Kampagnen eingegriffen und diese nur mit reduziertem Budget weitergeführt oder zurückgestellt. Zwar wurde und wird auf die aktuelle Situation auch mit neuen Kampagnen reagiert, die Marketingkommunikation insgesamt verzeichnet allerdings einen Rückgang. Insgesamt profitiert die Online-Werbung gegenüber anderen Kanälen von der derzeitigen Lage.
Architekturbüros sind derzeit überdurchschnittlich häufig von Auftragsabsagen betroffen und viele rechnen mit einer weiteren Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage in den nächsten Monaten. Staatliche Hilfen und Beratungsangebote sind auch hier weiterhin gefragt. Freie Architekten sind ebenfalls betroffen. Der Bundesverband der freien Berufe spricht von vager Zuversicht und risikobehafteter Perspektive.
Die Buch- und Verlagsbranche sieht eine verstärkte Kundenabwanderung weg vom stationären hin zum Online-Handel. Die Diversität der Branche lässt keine übergreifenden Aussagen zu, auf der einen Seite treffen die negativen Corona-Auswirkungen den stationären Buchhandel sowie kleine und mittlere Verlage wirtschaftlich besonders stark, Kinder- und Jugendbuchverlage können das wirtschaftlich starke 2019 jedoch auch 2020 weiterführen und teilweise sogar übertreffen.
Soloselbstständige, kleine Unternehmen und mittelgroße Agenturen der Kultur- und Kreativwirtschaft schauen ungewiss in die Zukunft. Wir sehen eine steigende Nachfrage nach Austausch, Netzwerken aber auch beruflicher Neuorientierung beziehungsweise Weiterbildung. Innovative Formate und Geschäftsmodelle werden erprobt und es wird branchenübergreifend experimentiert.
Wo gibt es Möglichkeiten einer Zusammenarbeit? Und wie stehen in der aktuellen Situation die Chancen für eine Kooperation zwischen Kultur- und Kreativwirtschaft und Industrie?

Eine Aktion der WRS im Sommer 2020 war die Kampagne „Stell Dein Team auf“, in der Industrieunternehmen dazu aufgerufen wurden, für aktuelle Herausforderungen Kreativschaffende mit ihren innovativen Ideen zu befragen beziehungsweise zu engagieren. Quelle: WRS
Wir möchten Auftraggeber in der Tat dazu aufrufen, verstärkt Kooperationen mit Kreativschaffenden einzugehen. Kreativschaffende sind Problemlöser, Ideenentwickler, Innovationstreiber. Kreativschaffende sind es gewohnt schnell und flexibel auf neue Situationen, Herausforderungen und Trends zu reagieren. Die regionale Nähe zwischen Auftraggeber und Dienstleister ist trotz Online-Kommunikation ein entscheidender Vorteil. Die Region Stuttgart als starker Kreativstandort ist Heimat für zahlreiche Dienstleister aus der Kreativwirtschaft. Auf der Suche nach und bei der Entwicklung von neuen Produkten, Geschäftsmodellen oder digitalen Kommunikationskanälen helfen Experten aus den Bereichen Design, Szenografie, Games, Kommunikation, Werbung, Gestaltung, Film, Musik, Fotografie, Animation oder VR/AR. Dafür haben wir diverse Maßnahmen ins Leben gerufen, nicht erst seit Corona.
Gibt es Beispiele für erfolgreiche Kooperationen?
Der Binnenmarkt der Region Stuttgart ist vergleichsweise stark, die Kooperations- und Transferpotenziale sind hoch. Kreativwirtschaftliche und klassische, ingenieurorientierte Industrien profitieren am Standort voneinander. Die Region ist noch immer primär eine Industrieregion – dies aber mit starker kreativwirtschaftlicher Durchdringung. Monothematische Cluster sind nicht das Modell, nach dem sich die Kreativwirtschaft künftig entwickeln wird: Ein produktives und nachhaltig funktionierendes Innovationsumfeld erfordert eine Heterogenität und eine kritische kreative Masse vor Ort.
Dies ist eine absolute Stärke des Standorts Region Stuttgart. Hier haben wir intakte regionale Kreisläufe und ineinandergreifende Wertschöpfungsketten als Basis einer robusten regionalen Entwicklung, die einzigartig ist in Europa. Industrie und Kreativwirtschaft sind Teile eines integrierten Branchensystems in der Region Stuttgart.

Anteile der Kreativwirtschaft an der Wertschöpfung im Automobilsektor (Auswahl): Entwurf (1), Interior Design (2), Exterior Design (3), Usability (4), Textil (5), Sinnansprache: Sound Design & Co. (6, 7), Werbung und PR (8), Social Media (9), Presse (10), Kommunikation im Raum (11). Quelle: WRS
Bei all den genannten Stärken und Alleinstellungsmerkmalen schlummern aber immer noch viele Potenziale in der Region Stuttgart. So wurden zum Beispiel die „Biene Maja“ Kinofilme von 2014 und 2018 beide mithilfe der Universität Stuttgart produziert: im Höchstleistungsrechenzentrum HLRS, wo normalerweise wissenschaftliche Berechnungen durchgeführt und Simulationen und Visualisierungen für die Automobilindustrie gerechnet werden. Freie Kapazitäten wurden für die Animationsfilmproduktion zur Verfügung gestellt.
Diese interdisziplinären Standortvorteile wurden ausgespielt, um neue Produktionstechnologien zu ermöglichen. Für den nachhaltigen Zugang von Medienunternehmen zum Höchstleistungsrechnen wurde 2015 in Stuttgart das Media Solution Center gegründet.
Welche Bereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft sind in der Region Stuttgart besonders stark vertreten?
Neben den Teilbranchen Werbung, Design, Software/Games, die ein großes Umsatzvolumen erwirtschaften, haben mittlerweile die Teilbranchen Animation, Visualisierung und Visual Effects (VFX) eine große internationale Bedeutung erlangt.
Für das Thema Kommunikation im Raum, also die Gestaltung von Museen, Messeständen oder Unternehmensausstellungen, ist die Region der „Hotspot“ weltweit – mit Atelier Brückner, Milla & Partner, Jangled Nerves und vielen mehr.
Als Architekturstandort steht die Region Stuttgart im Ruf, die höchste Anzahl an Architekten europaweit – vielleicht sogar weltweit – zu haben.
Sechs der zwölf Stadien für die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien 2014 wurden von Stuttgarter Büros mitkonstruiert. Armaturen und Duschbrausen von Phoenix Design finden sich in allen Haushalten. Der Kinderbuchklassiker „Räuber Hotzenplotz“ wird noch immer hier verlegt. Überhaupt ist die Region mit rund 400 Verlagen ein starker Verlagsstandort.
Und sonst? Von hier stammen die besten Beschallungsanlagen von d&b audio und Fohhn. Mobilitätsdesign ist allgegenwärtig. Aber auch Geräte von Kärcher werden aufwändig gestaltet, Pressen von Schuler sogar seit jeher im Bauhausstil. Interaktionsdesign bei Benutzer-Interfaces spielt ebenfalls eine große Rolle und schafft an der Schnittstelle zur Industrie Auftragsvolumen für unsere Kreativen.
Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung dieser Teilbranchen ist die hohe Qualität und Anzahl von Ausbildungseinrichtungen im Kreativbereich: die Filmakademie Baden-Württemberg, die Hochschule der Medien, die Merz-Akademie, die Staatliche Akademie der Bildenden Künste, um nur einige zu nennen.
Gibt es auch erfolgreiche internationale branchenübergreifende Kooperationen? Wie steht es insgesamt um den internationalen Austausch Stuttgarter Kreativschaffender?
Zahlreiche Kreativdienstleister haben ein enges Produkt- und Dienstleistungsspektrum, häufig sind sie zudem von einigen wenigen Kunden abhängig. In Krisenzeiten der Auftraggeberbranchen, zum Beispiel der Automobilindustrie, geraten sie dadurch – wie derzeit ersichtlich – ebenfalls in einen Abschwung. Eine Erweiterung des Kundenkreises und des eigenen Angebotsportfolios macht Kreativunternehmen krisensicherer. Insbesondere kleine Unternehmen brauchen Unterstützung, um internationale Märkte zu erschließen und weltweite Kontakte für mögliche Kooperationen aufzubauen.

Das Cannes Lions International Festival of Creativity ist der größte Branchentreff für Agenturen, Werbe- und Kommunikationsprofis aus aller Welt. Quelle: WRS
Dabei muss darauf geachtet werden, die Zielgruppe – kreative Akteure – aktiv in die Maßnahme mit einzubeziehen, beispielsweise durch Teilnahme an Delegationen, Gemeinschaftsständen, etc.
Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen hinsichtlich neuer Märkte sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Das Thema Internationalisierung von Kreativschaffenden hinsichtlich der Erschließung neuer Märkte im Ausland ist bei der WRS seit langem verankert, nicht zuletzt – auf europäischer Ebene – durch das Betreiben eines Büros in Brüssel, das die Interessen der Region dort vertritt und aktuelle Informationen der EU in die Region trägt. Seit Jahren organisieren wir zum Beispiel Delegationsreisen für Kreative, in Kooperation mit anderen regionalen Organisationen, zu den Cannes Lions oder zur SXSW in die USA.
Auch durch die Teilnahme an europäischen Förderprojekten bauen wir übergreifende Netzwerke und neue Expertisen auf, die unseren Kreativschaffenden zugutekommen. So wurde im Rahmen des „CERIecon“ Projektes (2016-2019) gemeinsam mit der HdM der Akzelerator „Sandbox“ für GründerInnen der kreativen Industrien eingerichtet, der auch nach Ablauf der Förderperiode weiterhin potenzielle Unternehmer unterstützt. In einem anderen Projekt fördern wir die Zusammenarbeit von Kreativschaffenden, Stadtverwaltungen und Einzelhändlern, um der Leerstandsproblematik in Innenstädten gemeinsam zu begegnen. Bei den EU Design Days in Brüssel geht es vor allem darum, Designer mit Organisationen und Playern auf europäischer Ebene zu vernetzen und über aktuelle Themen zu informieren. Bei der Ausgabe 2019 war die Geschäftsführerin von Interiorpark in Stuttgart, Tina Kammer, als Referentin mit dabei.
Über die WRS
Die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (WRS) ist die zentrale Ansprechpartnerin für Unternehmen in der Stadt Stuttgart und den fünf umliegenden Landkreisen. Mit ihrer Arbeit macht die WRS die Qualitäten der Region Stuttgart bekannt und fördert mit zahlreichen Projekten und Angeboten die wirtschaftliche Entwicklung des Standortes. Als Tochter des Verbands Region Stuttgart und mit weiteren Gesellschaftern ist sie ein öffentlich getragenes Unternehmen. Für die regionalen Kreativschaffenden zeichnet der Geschäftsbereich Kreativwirtschaft verantwortlich. Gemeinsam mit dem Netzwerk MedienInitiative Region Stuttgart, der Film Commission und dem Pop-Büro Region Stuttgart ist es das Ziel, die Kreativen der Region zu vernetzen, ihre Stimme zu bündeln und den Standort als Kreativregion zu vermarkten.